
Manfred Stöhr: Ärzte, Heiler, Scharlatane - Schulmedizin
und alternative Heilverfahren auf dem Prüfstand Steinkopff Verlag,
Darmstadt 2001, 216 Seiten, 39,90 Mark
Die Menschen leben länger, daran hat auch die Medizin und nicht zuletzt die
Medizintechnik ihren Anteil. Und doch: Die wissenschaftliche Medizin ist in
der Krise. Nicht nur ihre Unbezahlbarkeit macht Sorgen, sie hat auch mit einem
Vertrauensverlust zu kämpfen. Immer mehr Menschen probieren zusätzlich
Alternativmethoden aus. Uralte Heilsweisen wurde ausgegraben wie das indische
Ayurveda, neue erfunden wie die "5 Tibeter" oder aus anderen Ländern
importiert wie die chinesische Akupunktur. Warum?
Nach Ansicht von Manfred Stöhr, Professor für Neurologie am
Zentralklinikum Augsburg, kann die so genannte Schulmedizin nicht mehr die
Augen vor der Abwanderungsbewegung verschließen. Die konventionellen Methoden
geraten in die Defensive, aber was ist dran an den Außenseitermethoden? Von
der Fußreflexzonenmassage über die Bach-Blütentherapie bis zur Irisdiagnose
- Stöhr unterzieht in "Ärzte, Heiler, Scharlatane" (Steinkopff
Verlag, Darmstadt) die unkonventionellen Angeboten einer kritischen
Betrachtung, die natürlich geschult ist am rationalen wissenschaftlichen
Vorgehen seiner medizinischen Ausbildung und Arbeit.
Er versäumt es dabei aber nicht, zunächst die Defizite der
wissenschaftlichen Medizin zu benennen: überbewertete Apparate, aggressive
Therapien und vernachlässigte psychosoziale Faktoren. In einigen Fällen
haben die Außenseitermethoden mehr an Zuwendung zu bieten, doch in fast
keinem Fall können sie als ein echter Ersatz gelten. In der Regel sind ihre
Grundannahmen hanebüchener Unsinn und ihre Heilerfolge kaum mehr als ein glücklicher
Zufall. Was an Alternativen oder Ergänzungen angeboten wird, ist nun
allerdings äußerst heterogen und folgt nicht allgemein akzeptierter
Vorstellungen. Gemeinsam ist ihnen immerhin:
- die Ablehnung der wissenschaftlichen Medizin als nicht ausreichend
- das Einfordern einer eigenverantwortlichen Mitbeteiligung der Patienten
- eine alternative oder exotische Weltanschauung
- der Wunsch nach "ganzheitlicher Behandlung"
- die Ablehnung von "Chemie"
- den Anspruch, als einzige den "guten Arzt" zu repräsentieren
- die Bevorzugung von pflanzlichen Heilmittel (Phytopharmaka).
Stöhr schrieb sein Buch nicht aus einer grundsätzlich negativen Einstellung
alternativen Verfahren gegenüber. Einiges kann eine Bereicherung der
wissenschaftlichen Medizin sein, anderes ist reine Scharlatanerie.
Beide Systeme seien in unterschiedlicher Weise unvollständig und daher ergänzungsbedürftig.
Alle würden gewinnen, wenn ein Dialog stattfände. Durch die Hereinnahme
einiger alternativer Verfahren, vor allem die "Naturheilkunde", könnte
die Gesundheitsvorsorge und die Behandlung leichter und chronifizierter
Krankheiten profitieren. Für "integrationswürdig" hält Stöhr:
Klima- und Heliotherapie bei saisonalen Depressionen und Erschöpfungszuständen,
die Hydro- und Balnotherapie zur Abhärtung, die Physiotherapie bei
Bandscheibenproblemen (in Form der "Rückenschule") und nach
Schlaganfällen, Ausdauertraining und einige Entspannungsverfahren.
"Alternativen" wie Diäten, Medikamente aus Heilpflanzen,
Chiropraxis, Akupunktur und Psychotherapie sind tatsächlich schon längst in
die wissenschaftliche Medizin integriert. Den Rest darf man getrost
ignorieren. Die Schulmedizin ist unvollständig und ergänzungsbedürftig,
betont Stöhr. Das bedeute keineswegs, den ganzen Hokuspokus alternativer
Heilverfahren in die bestehenden Medizinbetrieb zu integrieren. Bei schweren
Krankheiten sei es geradezu lebensgefährlich, sie anzuwenden. Außenseitermethoden
sind gefährlich, weil sie notwendige Diagnostik ablehnen oder mit
ungeeigneten, "selbst erfundenen" diagnostischen Methoden (Fußreflexzone,
Irisdiagnose) zu völlig abstrusen Diagnosen kommen und notwendige und verfügbare
Behandlungen unterbleiben (Schädigung durch Unterlassung).
Der Begriff "Alternativmedizin" ist nicht definiert. Es segeln
auch Massagen, Entspannungsübungen, Diäten, einige Psychotherapieschulen und
Pflanzenarzneien und sogar die Chiropraktik (das Einrenken von Gelenken bei
Verspannungen) unter dieser Flagge. Trotz Ganzheitsanspruch: Eine
Zersplitterung findet sich auch bei den Außenseitern: Homöopathen,
Phythotherapeuten (Kräuterheilkundler), Anthroposophen, Osteopathen
(Knochenheilkundler), Enzymtherapeuten, Regenatherapie, Kneipptherapie (Kuren
im Wasser), Neuraltherapie, Bach-Blütentherapie, um nur einige zu nennen. Sie
sind meist so spezialisiert, dass auch sie die geforderte Ganzheitlichkeit
nicht erreichen. Die Irisdiagnose diagnostiziert eben nur die Iris.
Stöhr wird den Streit zwischen Wissenschaft und Neo-Romantik nicht
schlichten können, zu feindlich stehen sich die unterschiedlichen Ansätze
gegenüber. Dem Autor gelingt es aber, für jene, die rational denken können
und wollen, die Kritik an den Außenseitermethoden plausibel zu machen und den
Stellenwert der wenigen wirklichen Zusatzverfahren zur wissenschaftlichen
Medizin - pflanzliche Arzneien, Bäder- und Physiotherapie - zu beschreiben.
In existenziellen Notfällen regredieren aber auch kluge Köpfe in
vorrationale Denkstrukturen und fallen auf Autodidakten herein, die eine fixe
Idee beharrlich vertreten.
Noch einWort zur Terminologie:
Wissenschaftliche Medizin ist der bessere Begriff zur
"Schulmedizin" und umfasst alles, was die Studenten an den Universitäten
lernen und üblicherweise in Arztpraxen und Kliniken angewandt wird. Viele
Methoden der wissenschaftlichen Medizin selbst sind aber in ständigem Wandel
begriffen und die Experten diskutieren leidenschaftlich über die richtigen
Methoden, die sich im Laufe der Zeit oftmals tiefgreifend wandeln. Man denke
nur an das Magengeschwür. Noch vor 15 Jahren wurde mit Diät gegengehalten,
heute wird ein bestimmtes Magen-Bakterium mit Antibiotika bekämpft.
Konventionelle Medizin - ein anderes Wort für Schulmedizin , man könnte
auch konservative oder herkömmliche Medizin sagen.
Orthodoxe Medizin, so wird die wissenschaftliche Medizin von ihren
Kritikern auch genannt. Ist im Grunde irreführend, denn die wissenschaftliche
Medizin ist nicht weniger orthodox - also "streng am Herkömmlichen
festhaltend" - wie die "Alternativmedizin". Wird
"orthodox" mit "starr, unbeweglich, unnachgiebig,
engstirnig" übersetzt, so hat die Alternativmedizin in diesem Bereich
sicherlich mehr vorzuweisen als die wissenschaftliche Medizin. Die 200
Jahre alte Homöopathie wird noch heute so praktiziert, obwohl die behauptete
Wirkweise hanebüchen und Wirkung unbewiesen ist.
Naturheilkunde basiert auf den "6 Säulen" Luft, Licht,
Wasser, Bewegung, gesunde Ernährung und pflanzliche Arzneien (Phytotherapie).
Naturheilkunde ist keine "Alternativmedizin" im engen Sinne, da sie
nur bei leichten Störungen wirksam ist; sie kann aber die wissenschaftliche
Medizin unterstützen oder einer Verschlimmerung vorbeugen.
Komplementärmedizin heißt "Ergänzungsmedizin" und will
keine Alternative sein, sondern eine Ergänzung zur wissenschaftlichen
Medizin, ohne ihren strengen Kriterien zu unterliegen. Beispiele: Mistel- oder
Cannabis-Extrakte gegen Übelkeit bei Chemo-Krebstherapie.
Alternativmedizin, so nennen sich viele nicht-wissenschaftliche
Methoden selbst. Der Begriff ist irreführend, weil die meisten Methoden keine
echte Alternative zur wissenschaftlichen Medizin darstellen, sei es, dass sie
gar nicht die Wirkung der wissenschaftlichen Medizin erreichen, sei es, dass
sie als alleinige medizinische Behandlung ein enormes Risiko für Patienten
beinhaltet, weil ihnen eine wirksame Methode vorenthalten wird.
Unkonventionelle Heilweisen - eben außerhalb der
"konventionellen Medizin" liegend. Können natürlich manchmal den
Durchbruch in die wissenschaftliche Medizin schaffen in dem Sinne, dass alle
wissenschaftliche Medizin einst "unkonventionell" war. Aber aus der
jüngeren Zeit ist kaum ein Beispiel erinnerlich. Johanneskraut gegen leichte
Depressionen beispielsweise erwies sich in jüngerer Zeit in seriösen Studien
als wirksam.
Außenseitermethoden ist vielleicht der beste Begriff für
unkonventionelle Methoden. Sie werden ja jeweils meist nur von einem kleineren
Bevölkerungskreis goutiert, während andere Gruppen auf andere Methoden schwören.
Auf jeden Fall liegen diese Methoden außerhalb der wissenschaftlichen
Medizin, die doch immer noch von den allermeisten akzeptiert ist, wenngleich
kritisiert wird.
Gerald Mackenthun, Berlin
September 2001

Ärzte, Heiler, Scharlatane.
Schulmedizin und alternative Heilverfahren auf dem Prüfstand
