Rühle-Gerstel, Alice: Der Weg zum Wir. Versuch einer
Verbindung von Marxismus und Individualpsychologie. Dresden 1927, Nachdruck
München 1980
Nach dem Ersten Weltkrieg befand sich Deutschland in einer
äußerst schwierigen politischen und sozialen Lage. Die alten
Mittel taugten nichts mehr, aber Rettung nahte für die Psychologin
und Schriftstellerin Alice Rühle-Gerstel (Prag 1894 - Mexiko 1943)
in Gestalt von Marxismus und Individualpsychologie. Diese beiden Theorien
seien am besten geeignet, das Chaos zu klären und auf dem schweren
Weg in die Zukunft zu leuchten. In Der Weg zum Wir (1927) stellte
sie in knapper Form sowohl Marxismus als auch Individualpsychologie dar,
um dann in einem dritten Schritt die Leser von der Notwendigkeit und der
Möglichkeit einer Synthese zu überzeugen.
Ausgangspunkt ist der Gedanke, dass alle Tätigkeit des Menschen
der Sicherung vor den Gefahren der Natur dient und dass alle Kultur eine
Kompensation von Hilflosigkeitsgefühlen ist. Irgendwann schlug das
gemeinsame Wirtschaften durch Überproduktion in ein Anhäufen
von Privatbesitz und Kapitalbildung um. Auf individueller Ebene fühlt
sich der Mensch der Natur und anderen Mächten (den Eltern) unterlegen
und sucht in „Fiktionen" sein kompensatorisches Größenich aufrecht
zu erhalten. Das trennt ihn von der Gemeinschaft, ebenso wie die Spaltung
der Gesellschaft in zwei sich bekämpfende Klassen, dem Proletariat
und der Bourgeoisie. Die Abgeschiedenheit des Individuums von der Gemeinschaft
neurotisiert ihn; „...im gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Menschheit
durchneurotisiert. ... Die Neurose wird der normale Seelenzustand." (S.124/125)
Aber es ist nicht alles verloren. Es gibt das Bewußtsein. Damit kann
der Mensch in sich hinein schauen und Minderwertigkeitsgefühle und
Überkompensation durchschauen, der Rest von Mut kann hervorgezogen
werden. Emphatisch feiert Rühle-Gerstel das heraufkommende Zeitalter:
„In dem Maße jedoch, als alle Ackernden Durchschnittspioniere
werden, fängt der Boden an, Früchte zu ragen. Die starren Stämme
belauben sich, grün sprießt es aus der Erde, allmählich
wird die erste Ernte reif. Der Mangel stirbt ab, die Unsicherheit wird
kleiner, die Isolation verschwindet, es wächst das Vertrauen und damit
das Selbstvertrauen, die Minderwertigkeitsgefühle sterben ab, das
alte Bewertungslineal wird zum Gerümpel geworfen. Eine neue Phase
der seelischen Entwicklung hebt an, in der auch die zwangsmäßige
Gleichheit des Seelisch-Armseins verschwindet. In der höheren Einheit
der Brüderlichkeit dürfen die Verschiedenheiten der Brüder
harmonisch zu leben beginnen. Es sind nicht mehr Verschiedenheiten des
‘Mehr’ oder ‘Weniger’, sondern des ‘So’ oder ‘Anders’. Ich und Ich verschmelzen
im Wir, in dem sie nicht untergehen. ... das Gemeinschaftsgefühl steht
auf aus der Verschüttung. Es ist bereichert um das so teuer erkaufte
Selbstwertgefühl, das nicht mehr in den Klauen der neurotischen Wertmesserei
hängt, sondern mit offenen Armen und bereiten Händen in den Kreis
der Mitmenschen tritt. Der Mitmensch!" (S.136/137)
Die Hauptschwierigkeit für die mit dem Sozialrevolutionär Otto
Rühle verheirateten Autorin bestand darin, Marxisten und Individualpsychologen
von einer Verschmelzung zu überzeugen. Es kam also darauf an, die
Gemeinsamkeiten hervorzuheben. So sind für Rühle-Gerstel beide
Theorien zeithistorisch-situativ konkret, in beiden steht der Mensch im
Mittelpunkt. Der Kapitalismus ist ebenso veränderlich wie die Neurose
mit ihrem Machtstreben. Das Machtstreben ist die charakteristische Tendenz
des kapitalistischen Zeitalters, Kapitalist wie Proletarier sind gleichermaßen
infiziert. Der Weg ist klar: Wenn das Privateigentum an Produktionsmitteln
abgeschafft wird, verschwindet die Ausbeutung, es gibt keine Kapitalisten
mehr, die Gesellschaft besteht nur noch aus gleichberechtigten Arbeitern,
für Minderwertigkeitsgefühle existiert kein Grund mehr und damit
fällt auch das neurotische Macht- und Geltungsstreben weg.
Natürlich hatten die Vertreter von Marxismus und Individualpsychologie
jeweils einiges einzuwenden, aber Alice warf ihnen vor, die Gegensätze
zu betonen, weil sie gewohnt seien, Gesellschaft und Individuum als getrennt
zu denken. Der Mensch aber sei ein geselliges Wesen oder war es zumindest,
bis die Menschheit in Klassen gespalten wurde. In komplizierten Passagen
mühte sich Rühle-Gerstel ab, deterministische und dogmatische
marxistische Aussagen zu relativieren und den Gegensatz von marxistischer
Revolution und individualpsychologischer Evolution zu glätten. Die
Marxisten wollten die Individualpsychologie in einer dienenden Rolle belassen,
unter anderem mit dem Argument, sie nivelliere Klassenunterschiede, indem
sie sich mit allen Menschen (selbst dem Bankdirektor) befasst. Die Individualpsychologen
hatten Bauchschmerzen damit, dass die Marxisten eine Gemeinschaft nur für
das Proletariat, nicht für alle Menschen anstrebten. Aber ist nicht
Klassenkampf eine furchtbare Form der Neurose? fragte Rühle-Gerstel
ernst.
Indem Marxisten alle gesellschaftlichen Gegebenheiten „materialistisch"
von der Warenproduktion ableiteten, waren sie kaum davon abzubringen, dass
die Veränderung der Produktionsverhältnisse an allererster Stelle
stehen müsse - alles andere sei zweitrangig. Das war der Haupteinwurf,
den Rühle-Gerstel entkräften musste, wollte sie eine Verschmelzung
mit der Individualpsychologie. Sie argumentierte:
„’Menschen’ und ‘Verhältnisse’ - das lehrte uns
der Marxismus wie auch die Individualpsychologie - sind nicht zu trennen
und in eine zeitliche Reihenfolge einzuspannen. Alle Verhältnisse
werden von Menschen gemacht, getragen oder geändert. Alle Menschen
leben in und durch die Verhältnisse. Es leuchtet ohne weiteres ein,
daß Menschen und Verhältnisse gleichzeitig und zusammen verändert
werden müssen." (S.195/196)
Vital und leidenschaftlich, in kühn gesetzten Worten,
beschwört Rühle-Gerstel im Schlußkapitel „Neue Einheit"
die Utopie des vergesellschafteten Menschen. Das Ziel beider Theorien sei
identisch: eine „höhere Gemeinschaft". In dieser künftigen Gemeinschaft
verhalten sich alle Menschen wie gleich zu gleich, die Rangordnung ist
aufgehoben, auch die zwischen den Geschlechtern. Alles Streben hat ein
Ende, da alle Bedürfnisse befriedigt sind. Eine neurotische Lebenssicherung
ist nicht mehr nötig. Der Sozialismus ist die neurosefreie Gemeinschaft.
Kritische Würdigung
Der Versuch, Individualpsychologie und Marxismus zu verschmelzen,
erscheint als eine intellektuell erregende, doch letztlich vergebliche
Anstrengung. Beide Theorien stellen sich eher gegenseitig in Frage, als
dass sie sich ergänzen. Ihre Gemeinsamkeiten sind lediglich Parallelen,
die nicht weit tragen. Die Individualpsychologie will ermutigen und versöhnen,
sie stellt damit eine direkte Gefahr für den Klassenkampf dar. Die
Individualpsychologie konnte nicht umhin, im Marxismus eine neurotische
Machtattitüde zu sehen. Der Klassenkampf forderte den Hass, statt
ihn zurück zu drängen. Die Ermutigung, die die Individualpsychologie
erteilte, ist klassenneutral. Diesen Widerspruch kann Rühle-Gerstel
nicht lösen; es ist kaum möglich, sich den gemütlichen Kleinbürger
Alfred Adler als Barrikadenkämpfer zu denken.
Heute, nach 75 Jahren, einem weiteren Weltkrieg, dem Stalinismus,
dem „Steinzeitkommunismus" in Kambodscha und dem Zusammenbruch des Staatskommunismus,
kann der Marxismus kaum anders als ein riesengroßer Irrtum angesehen
werden. Die Menschen nutzten die erstbeste Gelegenheit, um sich der Kommandowirtschaft
und der Einparteiendiktatur zu entledigen. Eines ihrer Hauptfehler war
das Abtöten des produktiven Individualismus, wie überhaupt besonders
an Otto Rühle ein Antiintellektualismus festzustellen ist und die
Rühles letztlich dem Kollektivismus den Vorrang gaben vor der Einzelpersönlichkeit.
Die Grundannahmen des Marxismus führten zu Weiterungen, die inakzeptabel
nicht nur für die Individualpsychologie waren. Indem Rühle-Gerstel
wie alle Marxisten das Proletariat emporhebt und die Bourgeoisie pauschal
entwertet, verharrt sie in dem Oben-Unten-Schema, das sie doch überwinden
möchte. Der Keim neuer Entfremdung liegt schon im niedergeschriebenen
Gedanken, der auf Überwindung der Entfremdung zielt. Die unbestrittene
Verflochtenheit von Sozialem und Seele kann dem nicht abhelfen.
Gerald Mackenthun, Berlin
Dezember 2000
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