
Giovanni B. Cassano und Serena Zoli: Der Weg aus der Dunkelheit - Depression: Was sie ist und wie man sie heilen kann. Rowohlt Verlag Hamburg 1966, 493 S., 48,-- DM
Die italienische Journalistin Serena Zoli befragte in ausführlichen Interviews
Giovanni Cassano, einen italienischen Depressionsforscher und Lehrstuhlinhaber
an der Universität Pisa, zu allen Aspekten der Depression und nach den neuesten
Therapiemöglichkeiten. Der Kernsatz lautet, daß die Medikamente die einzige
mögliche, sinnvolle und wirksame Therapie ist.
Cassano vertritt zwei Thesen: Depression hat einen biologischen Ursprung; sie
ist kein Problem ethisch-moralisch-menschlicher Natur, sondern eine medizinisch
behandelbare Krankheit. Zweitens: Die Psychoanalyse kann Depressionen nicht
heilen, aber in bestimmten Fällen die medikamentöse Behandlung unterstützen.
Glücklicherweise bleibt es bei dieser scheinbar klaren Aussage nicht, sondern in
dem wirklich umfassenden Buch ist genug Raum für differenzierte Argumentationen.
Die erste Einschränkung betrifft die Psychoanalyse. Sie kann die schwere
Melancholie nicht heilen, ist nach Meinung von Frau Zoli aber durchaus geeignet
zur Besserung vieler Konflikte und Störungen. Sie selbst irrte jahrelang von
Psychoanalytiker zu Psychoanalytiker, und erst die Lithium-Therapie befreite sie
von den Fesseln ihrer Depression. Die inneren Kräfte erhielten wieder die
Oberhand und brachten ihre wirklichen zwischenmenschlichen Konflikte an die
Oberfläche, die sie dann mit Hilfe der Psychotherapie angehen konnte.
Psychopharmaka sind also nicht die einzig mögliche Therapie der Depression,
sondern eine kombinierte Behandlung mit Lithium mit Antdepressiva, unterstützt
durch eine Psychotherapie oder Psychoanalyse scheint das richtige Vorgehen.
Der Depressive verliert alle Freude am Leben, kann nichts mehr genießen; Freud
und Leid seiner Mitmenschen sind ihm gleichgültig; er kann sich für nichts mehr
begeistern und über nichts mehr ägern und fühlt sich insgesamt kraft- und
schwunglos. Das Aufwachen am Morgen ist für ihn der schlimmste Augenblick des
Tages, weil ihm der vor ihm liegende Tag wie eine riesige, öde Ebene erscheint,
die zu durchqueren ihm nie gelingen kann. Zum Gefühl der Nutzlosigkeit kommt die
Überzeugung, daß ihm niemand helfen kann. Keiner kann ihn verstehen; es gibt
keine Hoffnung. Erlösung scheint nur der Tod zu versprechen, und in der Tat
nehmen sich Depressive überdurchschnittlich oft das Leben.
Der Kern des Problems liegt für Serena Zoli darin, daß die wahre Natur der
Depression immer noch nicht erkannt ist. Nach wie vor sind die meisten Kranken
überzeugt, sie steckten in einer Lebenskrise. Sie haben große Schuldgefühle,
weil sie sich angeblich nicht zusammenreißen können, und sie schreiben sich alle
Schuld am Elend dieser Welt zu und wollen unbedingt für ihre Sünden Sühne
leisten. Sie halten die Depression für die Strafe ihrer Sünden.
Kurze Perioden einer leichten psychischen Herabgestimmtheit oder der Trauer nach
Verlusten sollten nicht mit Depressionen gleichgesetzt werden. Der Unterschied
liegt vielleicht darin, daß Depression ausschließlich als steril und überflüssig
empfunden werden kann, während Trauer und ihre Überwindung zu unserer
Entwicklung beiträgt. Ein trauernder Mensch leidet auch nicht unter
psychomotorischer Antriebsschwäche oder unter einer alles überschwemmenden
Angst. Der Rückzug in der Trauer dient der Erholung und Sammlung, und ist nicht
Ausdruck einer zerstörerischen Einsamkeit.
Vielen Menschen fällt es schwer, die biologische Natur der schweren Depression
anzuerkennen. Die Psychoanalyse sollte immer erst nach Einleitung einer
medikamentösen Behandlung begonnen werden, sagt Zoli. Wenn man vierzig Grad
Fieber hat, strengt man sich ja auch nicht an, damit es einem besser geht,
sondern man läßt sich behandeln. "Bei der Behandlung der Depression kann der
persönliche Wille nichts ausrichten, sondern führt im Gegenteil zur
Verschlimmerung, weil der Kranke sich dann auch als Versager empfindet." (S.72)
Die Psychotherapie kann nicht den tiefen Kern der Depression, die zentralnervöse
Störung, erreichen.
Welche Beweise gibt es für eine Verbindung zwischen Depression und Biologie?
- ihre Periodizität: Die Depression hat eine periodische Verlaufsform; ihre
Episoden oder Phasen können sehr lang oder auch nur kurze Zeit dauern und
regelmäßig oder unregelmäßig wiederkehren;
- ihre Saisonalität: Bei manchen Kranken kommt es pünktlich im Herbst oder
Frühjahr zum Ausbruch einer depressiven Phase; wären innere Konflikte oder
Lebensprobleme die Ursache des Leidens, gäbe es keine Erklärung für dieses
Phänomen;
- ihre Tagesschwankungen: Warum geht es einem Depressiven abends besser als
morgens oder umgekehrt? Diese Symptomschwankungen spiegeln die Schwankungen der Hormonzyklen wider;
- die mit ihr verbundenen "psychischen und neurovegetativen Symptome":
Schlaflosigkeit oder übermäßiges Schlafbedürfnis, Appetitverlust oder maßlose
Steigerung des Appetits, Nachlassen der Libido, ein Gefühl tiefer Erschöpfung
(Asthenie), Gewichtsverlust, motorische Gehemmtheit, Verstopfung, Kopfschmerzen,
Übelkeit, Inappetenz;
- die Tatsache, daß Depressive auf eine medikamentöse Behandlung und die
Elektrokonvulsionstherapie ansprechen;
- endokrinologische Untersuchungen, die bei Depressiven eine Störung des
Gleichgewichts im Regelkreis Zwischenhirn - Hinanhangdrüse - Nebennieren
ergaben;
- während des Schlafs aufgezeichnete Elektroenzephalogramme: Typisch für
Depressive ist eine tiefgreifende Störung der Schlafphasen. Ihre
Tiefschlafphasen sind erheblich kürzer als bei gesunden Menschen;
- ihre Vererbbarkeit: Seit jeher gilt es als erwiesen, daß derartige Störungen
innerhalb einer Familie vererbt werden. Jeder Arzt kann mit wenigen Fragen
ergründen, ob in der Familie eines Patienten auch andere Angehörige an
depressivem Kranksein leiden. (S.73/74)
Neben Lithium gibt es die sogenannten trizyklischen Antidepressiva und die
sogenannten Serotonin-Rückaufnahmehemmer als neue Generation von
Psychopharmaka. Serotonin ist ein sedierender Neurotransmitter, der den
Medikameteneinnehmer eher vorsichtig macht, während Dopamin aktivierend wirkt und
Risikofreude fördert. Bei Einnahme von Lithium wird die Grundstimmung
konstanter, was durchaus nicht alle Patienten als positiv empfinden. Neben den
Tiefs entfallen auch die Hochstimmungen. Aber viele sind bereit, diesen Preis
für die gewonnene größere seelische Ausgeglichenheit zu zahlen .
Cassanos Erklärungsmodell für die schwere Depression läuft auf die Einheit von
Körper und Seele hinaus, die durch die Existenz psychosomatischer Krankheiten
bewiesen wird. Nur stellt er sie auf eine biologische Grundlage, während andere
sie auf eine psychologische Grundlage stellen. Wer könnte entscheiden, wer mehr
Recht hat? Es gibt keinen Normalzustand weder der Biologie noch der Psyche. Bei
Cassano hat man den Eindruck, daß er erworbene Aspekte nicht hoch ansetzt.
Gleichwohl meint er, daß umweltbedingte Faktoren plötzlich eine sehr wichtige
Rolle spielen können. So eindeutig ist die biologische Seite unseres Verhaltens
also nicht, zumal der Mensch eine breite Variationsbreite seines Verhaltens hat.
Andererseits scheint es keine für alle gleiche Freiheit zu geben.
Die Biopsychologie hat das Menschenbild stark verändert, bisher als sicher
geltende Überzeugungen gelten als überholt und man muß die Sicht vom Menschen
neu formulieren. Psychopharmaka werden entweder in höchsten Tönen gepriesen oder
in Bausch und Bogen verdammt. Nicht jede Kritik ist unbegründet. Antidepressiva
leiden dabei unter Vorurteilen, die mit einer anderen Kategorie von
Psychopharmaka in Verbindung stehen: den Benzodiazepinen, also Tranquilizer und
Schlafmitteln. Viele psychisch Kranke tun nichts gegen ihren Alkohol-, Kaffee-
und Nikotinabusus, haben aber Angst vor geringen Dosen von Antidepressiva. Die
jüngst entwickelten Antidepressiva sind aber besser verträglich und haben
weniger Nebenwirkungen als die früher gebräuchlichen. Zu ihnen zählen die seit
den achtziger Jahre gebräuchlichen Fluoxetine, die das serotonerge System
selektiv beeinflussen und weit weniger Nebenwirkungen haben. Damit ist eine
Revolution in der Depressionsbehandlung eingetreten (S. 316). Die Nebenwirkungen
sind aber teilweise gravierend. Sofern die Therapie anspricht, was in 40 bis 60
Prozent der Fall ist, sind die Patienten überglücklich: "Ich fühle mich, als ob ich
von den Toten auferstanden wäre", "wie neugeboren" oder "die Behandlung hat mir
mein Leben wiedergeschenkt" "warum hat mir das nur niemand früher gesagt?" ,
"warum hab' ich mich jahrelang ohne Medikamente gequält." (S.343)
Viele verwirrt die Tatsache, daß ein bißchen Chemie die seelische Verfassung und
das ganze Leben radikal verändern kann. Aber was gibt es da zu verwundern, wenn
schon ein paar Gläschen Wein die Stimmung oder die Ansichten über das Leben und
die Welt verändern? Da ist auch Chemie im Spiel.
Gerald Mackenthun, Berlin
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