de Waal, Frans: Saturns Schatten. Der Affe und der
Sushimeister. Das kulturelle
Leben der Tiere. Aus dem Englischen von Udo Rennert. C. Hanser Verlag,
München 2002; 392 S., mit einigen Fotos und Karikaturen; 24,90 Euro
Ist der Mensch von Natur aus gut? Und wenn nicht, woher kommt das Gute im
Menschen? Ist "das Gute" eine Erfindung oder eine Illusion? Kann und
muss "das Böse" ausgemerzt werden? Fragen, die die Menschheit seit
Jahrhunderten bewegt. Antworten scheinen vielleicht in den Menschenaffen zu
liegen, unseren engsten tierischen Verwandten. Der holländische
Primatenforscher Frans de Waal hat sie genau beobachtet und verfolgt seit
einigen Jahren die Frage, wie der Homo sapiens seinen einzigartig hohen
Kulturstand erreichen konnte. Schon in "Der gute Affe" (1997) suchte
und begründete er eine Kontinuität vom Affen zum Menschen sowohl in
Niedertracht und Bosheit als auch in Moralität und Altruismus. In seinem
neuesten Buch "Der Affe und der Sushimeister" sucht de Waal Belege für
eine tierische Kultur, die er als Grundlage für menschliche Kulturleistungen
ansieht.
Darwin vertrat die Auffassung, dass menschlicher Egoismus mit einer kräftigen
Dosis Mitgefühl und Hilfsbereitschaft gemildert wird. Die Huxleyianer machten
daraus, dass die Menschen von Natur aus Rivalen und nur durch strenge
Erziehung zum Guten und Sozialen fähig seien. Kropotkin nahm die
entgegengesetzte Position ein und postulierte, erst Mitgefühl sichere Überleben
und kulturellen Aufschwung. Da die meisten Menschen die meiste Zeit relativ
friedlich miteinander auskommen (im Gegensatz zu den Schimpansen), bekamen die
Huxleyianer ein Erklärungsproblem. Wie kommt es, "dass Piranhas in der
Mehrzahl Vegetarier wurden", um ein Bild von de Waal zu benutzen?
Der gebürtige Holländer de Waal jedenfalls sieht keinen Gegensatz
zwischen Natur und Kultur, Genen und Gewissen, sondern betrachtet beides als
integriertes Ganzes. Soziale Verantwortung und Sittlichkeit seien fest in
unseren natürlichen Neigungen verankert (und kein dichotomischer Gegensatz,
wie Sigmund Freud annahm). Moral sei ein Bestandteil der menschlichen Natur.
Menschliche Moral entwickelte sich aus den sozialen Impulsen der
Menschenaffen. Der Mensch stehe nicht jenseits der Natur, er ist nicht
"erster Freigelassener der Schöpfung" (Herder), er hat keinen
Alleinanspruch auf Kultur und Moral, obwohl er es in diesen Disziplinen weiter
gebracht hat als als unsere tierischen Verwandten. "Die menschliche
Kultur ist einzigartig, doch bestimmte grundlegende Fähigkeiten lassen sich
bis auf die Stufe der Tiere zurückverfolgen", schreibt de Waal im resümierenden
Nachwort.
Aber was ist "Kultur? Um seine Hauptthese zu stützen, muss er einen
speziellen Kulturbegriff verwenden: "Kultur bedeutet einfach, dass
Kenntnisse und Gewohnheiten von anderen erworben wurden", was zu
unterschiedlichen Verhaltensformen in der gleichen Spezies führt. Junge
Katzen lernen, Katzenklos zu benutzen, junge Krähen, die ihren Eltern auf Mülldeponien
folgen, entwickeln eine lebenslange Vorliebe für Mülldeponien als
Nahrungsquelle, in Zoos aufgezogene Kondore halten sich nach Auswilderung in
der Nähe menschlicher Siedlungen auf und sind unfähig, in freier Wildbahn
Nahrung zu suchen. Stare imitieren Laute und erweitern sie um einige Töne.
Das Haupt- und Paradebeispiel de Waals zur Untermauerung seiner These ist
das Waschen von Süsskartoffeln im salzigen Meer bei japanischen Makaken.
Dieses Verhalten trat in den 50er Jahren spontan auf und tradiert sich bis
heute. Tiere haben kein Symbolsystem, aber sie entwickeln neue Techniken und
bestimmte Gewohnheiten, die die Jungen durch Zuschauen von den Alten lernen
und die nicht durch Gene erworben wurden. Daher der Buchtitel; angeblich
schauen Sushi-Lehrlinge ihren Meistern drei Jahre stumm über die Schultern,
ohne eine einzige Frage zu stellen. (Eine, nebenbei gesagt, für Menschen äußerst
ineffektive Kultur- und Lerntechnik.) Das Wie der Übermittlung
interessiert Primatenforscher nicht, wichtig ist nur der Beweis, dass erlernte
Informationen weitergegeben werden. Die Fähigkeit zur Nachahmung setzt eine
gewisse Portion Verständnis für das Nachzuahmende voraus. Weil Nachahmung an
Verständnis gebunden ist, kann der Sushi-Lehrling begreifen, was der Meister
macht, während Menschenaffen bislang unfähig blieben, allein einen
Fahrradschlauch zu flicken. Sie wissen nicht, wozu ein Fahrrad gut ist und
nicht, dass man mit einem Platten schlecht rollt, noch begreifen sie die
Funktionsweise einer Luftpumpe.
Warum waschen Makaken jetzt ihre Süsskartoffeln? Um die Kartoffeln von
Sand zu reinigen oder um sie mit Salz zu würzen? de Waal gesteht ein, dass es
schwierig bleibt, sich in die Denk- und Gefühlswelt von Tieren hinein zu
versetzen. Einige Schimpansengruppen benutzen Blätterkissen, auf die sie sich
setzen, um, wie de Waal schreibt, "nicht unmittelbar auf dem feuchten
Erdreich zu sitzen". Aber woher weiß er das? Es könnte auch ein
spontanes Verhalten eines Gruppenmitglieds sein, das andere nachahmten. Nicht
alle erworbenen Handlungsvarianten erhöhen den "Überlebenswert",
viele sind ohne ersichtlichen Vorteil.
Nun gut, insbesondere Menschenaffen haben einige kulturelle Angewohnheiten
angenommen, aber wenn das Waschen von Kartoffeln die Spitzenleistung sein
soll, kann der Rest nicht besonders beeindruckend sein. Affen haben einen
gewissen Sinn für das Bemalen von Papier, aber sie entwickelten diese Kunst
nicht selbstständig, sondern wurden von Menschen angeleitet. Es ist seit längerem
klar, dass der Gebrauch von Werkzeug keine rein menschliche Fähigkeit ist.
Neben Dominanzstreben, Herrschaftstrieb und Hackordnungen gibt es ebenso
Altruismus, Treue, Vertrauen, Mitgefühl, Versöhnung und Großherzigkeit
unter Primaten, wobei fraglich ist, ob sie ein Bewußtsein davon haben, welche
Wirkung ihr Verhalten auf andere hat.
Der Unterschied zu den menschlichen Fähigkeiten bleibt enorm. Woran liegt
das? Unter anderem, weil aktive Unterweisung in der Tierwelt sehr selten
vorkommt. Der Mensch hat kognitive Fähigkeiten, die ihn eben doch von allen
anderen Tieren unterscheiden, wenngleich die biologische Basis dazu in etwa
gleich sein dürfte. Menschen beherrschen komplexe technische Abläufe,
symbolische Kommunikation und ausgefeilte Gesellschaftsorganisationen. Was
genau diesen Sprung nach vorn ermöglichte oder bewirkte, ist derzeit
unbekannt. Eine These, vertreten von Michael Tomasello ("Die klturelle
Entwicklung des menschlichen Denkens", Frankfurt/Main 2002) ist die, dass
die Identifikation mit anderen zunahm. Das erleichterte das Lernen, das nicht
mehr nur bloße Nachahmung blieb, sondern durch gezielte Unterweisung zu
Stande kam. Das beschleunigte kulturelles Lernen radikal. Nur an wenigen
Affenarten ist so etwas wie Einfühlung beobacht- oder spürbar, während
kleine Kinder schon früh auf Erwachsene eingehen können. Kinder lernen sehr
viel anhand von Anregungen aus ihrer Umgebung, während sich Menschenaffen
unter menschlicher Anleitung nur mühsam einige Handgriffe und Bildsymbole
aneignen, die sie an Nachkommen nicht weitergeben. Der Mensch ist Mensch
geworden, weil er über stabile Mechanismen der generationsübergreifenden
Weitergabe von Erlerntem verfügt. Sein biologisches Gehirn befähigt ihn
dazu. Warum andere Primaten ihm nicht folgen konnten, bleibt bis auf weiteres
ein Rätsel.
Natur und Kultur ergänzen einander. Diese Botschaft dürfte inzwischen
angekommen sein. de Waal kämpft aber noch mit alten Hüten, dem
Anthropozentrismus und der strikten Dichothomie von Natur und Kultur. Diesen
Buhmann braucht er wohl, um so richtig zu Hochform aufzulaufen. Was er über
erlerntes Verhalten bei Menschenaffen zusammenträgt, ist spannend und
lehrreich, teilweise aber auch abschweifend und anekdotisch.
Aber Zweifel an seinen Thesen sind angebracht. Zu seinem Kulturbegriff gehört
beispielsweise nicht das "learning by doing" des Individuums, also
die Neuschaffung von Wissen anhand neu angewandten vorhandenen Wissens, und
ebenso nicht die Unterweisung anhand von Zeigen oder Sprechen. Indem er Kultur
so eng definiert, wertet er Menschenaffen auf und blendet damit gleichzeitig
die vorhanden menschlichen Vorsprünge aus. Ihm geht es einzig um neu
erlerntes Verhalten, das an die nächste Generation weitergegeben wird. Und
das wollen wir den Affen gern zugestehen.
Gerald Mackenthun
Berlin, November 2002
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