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Ronald Siegel: Der Schatten in meinem Kopf. Geschichten aus der Welt des Wahnsinns. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischof. Eichborn Verlag Frankfurt/Main 1996, 370 S., DM 44,--


Wer kennt nicht die Angst auf dem nächtlichen Heimweg, wenn dunkle Gestalten hinter Büschen und Bäumen lauern? Die Wurzeln des Verfolgungsgefühls trägt jeder Mensch in sich, es macht uns wachsam. Ins Monströse aufgeblasen gebiert die Alarmbereitschaft die Paranoia. Aber in der Paranoia lauert der Feind nicht irgendwo da draußen, sondern im Dunkeln des Gehirns. Der amerikanische Psychopharmakologe Ronald Siegel von der University of California in Los Angeles ist diesen Menschen näher gekommen als je einer zuvor. In seinem Buch "Der Schatten in meinem Kopf" gewährt er verstörendende Einblicke in die Welt des Verfolgungswahns.
Siegels Arbeitsmethode ist es, zur Vorbereitung auf gutachterliche Stellungnahmen vor Gericht die Paranoiker zu Hause zu besuchen, mit ihnen viel Zeit zu verbringen und schließlich selbst so viele Drogen und Medikamente einzunehmen wie die bedauernswerten Kranken, die im Wahn ein Verbrechen begingen. Das scheint durchaus einmalig, hat aber auch etwas masochistisches an sich und war für Siegel selbst nicht ungefährlich.
Mißtrauen, Feindseligkeit und Hypersensibilität kennzeichnen Paranoiker. Sie glauben sich vom CIA, dem KGB, der Mafia, kleinen grünen Zwergen sowie Spinnen und Würmern beobachtet beziehungsweise angegriffen. Meist sind Drogen Auslöser des Wahns, in der Regel Kokain. Aber auch Medikamentenmißbrauch oder Einsamkeit im Alter können den Weg bahnen. Furchtbare Verbrechen geschehen: Eine Mutter ersticht ihre Tochter, ein Vater prügelt seinen Dreijährigen zu Tode, ein anderer läßt einen Säugling verdursten.
Paranoiker sind gegen jede Behandlung hochgradig resistent. Der zwangsweise Drogenentzug im Gefängnis läßt sie manchmal zur Besinnung kommen. Bei intelligenten Patienten ist die Psychoanalyse der bevorzugte therapeutische Ansatz. In Gesprächen sollen die Patienten davon überzeugt werden, daß ihr Verdacht unbegründet ist.
Dem unkonventionell vorgehenden Siegel gelang nur in zwei eher harmlosen Fällen eine Heilung - bei "flüsternden Zähnen" (einer angeblichen Verschwörung von Zahnärzten) und einem religiösen Größenwahnsinnigen, der behauptete, Dinge telekinetisch bewegen zu können. Die spannend und kurzweilig geschriebenen Fallstudien sind mit historischen und literarischen Beispielen - von Hitler bis zu Tschechows "Krankensaal Nr. 6" - angereichert und belegen, daß die Geschichte der Paranoia erschreckend lang ist.

Gerald Mackenthun, Berlin

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