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Rhue, Morton: Ich knall euch ab! Mit einem Nachwort von Klaus Hurrelmann Ravenburger Buchverlag, 148 Seiten, 4,95 € 


Es ist ja viel gesprochen worden, überall war die Empörung und das Entsetzen groß. Selbst unser Bundeskanzler sprach von einem "unfassbaren Ereignis". Solche Bemerkungen von einem öffentlichen Repräsentanten sind eigentlich in hohem Maße ärgerlich, da sie zur Mystifizierung beitragen, als wären solche Ereignisse wie der Amoklauf in Erfurt oder in Littleton tatsächlich unverständlich. Grausig sind sie allemal, aber unfassbar eben nicht. Zwar mag es sein, dass dies in üblichen Kategorien nicht leicht auszudrücken ist, dass auch psychologische Theorien nicht so recht greifen wollen, weil es immer einen nicht so leicht auflösbaren Rest gibt. Jedenfalls gibt es viele Schüler, die keine Frustrationstoleranz haben, die in einem zerrütteten Elternhaus aufgewachsen sind - oder auch in einem der "Normalpathologie", jenen unauffälligen, angepassten Bürgern, als die auch erwachsene Amokläufer imponieren - und trotzdem wird nicht jeder zum Amokläufer.

Das komplexe Zusammenspiel ist mit bloßen allgemein gültigen Begriffen nicht leicht zu fassen. Vor allem wird nicht wirklich transparent, was in einem Menschen vorgeht, wie groß seine Verzweiflung ist, dass er zu einer solchen Tat greift, die ihn wenigstens einmal, posthum, aus der Position des Nichts heraustreten läßt. Wie groß der Haß ist und wie er sich entwickelt, das kann am besten in Einzelfallstudien erfaßt und erkannt werden. Hier entsteht dann wirklich Betroffenheit, die zugleich einen Aufruf beinhaltet, unsere doch so beziehungsgestörte Welt ein wenig zu verbessern, indem der einzelne sich selbst zum Mitmenschen entwickelt. Derart berührt werden wir am ehesten durch phänomenologische Studien. Und der Phänomenologie in der Psychologie am nächsten steht nun einmal die Literatur, der Schriftsteller, der eben die feinen Töne zu erfassen vermag und dem auch noch die nachvollziehbare Darstellung gelingt.

Morton Rhue hat schon einmal eine Probe seiner Kunst vorgelegt. In "Die Welle" schildert er, wie ein Experiment, indem eine engagierte Lehrerin ihren Schülern klarmachen will, wie die Vermassung in totalitären Systemen zustande kommt, wie nahezu jeder gefährdet ist, von solchen subtilen Systemen vereinnahmt zu werden, scheitert. Es scheitert dahingehend, dass es zu gut gelingt. Tatsächlich entwickeln sich totalitäre Strukturen, die plötzlich ein Eigenleben entwickeln. Was Experiment war, erfaßt die "Probanden" wie die Experimentatorin und wird zur Realität an einer Schule.

In gleicher Weise gelingt es Morton Rhue in "Ich knall euch ab!", dem Leser begreiflich zu machen, wie eine derart entmenschlichte Brutalität zustande kommt. Geht im Prozeß, wie schon von Dostojewski in "Raskolnikow" geschildert, eine Entmenschlichung der zukünftigen Opfer voraus, so erfahren zuvor die Täter eine Ausgrenzung und Entmenschlichung, die es ihnen nicht mehr möglich macht, sich der Gemeinschaft zugehörig zu fühlen. Gesellschaftliche Aspekte kommen hinzu: Beziehungslosigkeit, Egozentrismus, Modeterror, Gewaltvideos, Ausgrenzung all dessen, was nicht im Mainstream liegt. Rhue gelingt es auch in diesem Roman, die Leser in die Gefühlsstrukturen der Protagonisten einzuführen. Die Distanzierung und die bloße Schuldzuweisung an andere will nicht so recht gelingen.

Bernd Kuck, Bonn, 10.7.02

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Ich knall euch ab.

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