Lydia Marinelli und Andreas Mayer (Hg.): Die Lesbarkeit
der Träume. Zur Geschichte von Freuds "Traumdeutung". Fischer-TB,
Frankfurt a.M. 2000, 28,90 DM
"Rabbi Chisda hat gesagt: Ein Traum, den
man nicht deutet, ist wie ein Brief, den man nicht liest." (Talmud, Berachot
55a)
Sigmund Freud stellte in seinem Buch "Die Traumdeutung" von 1899/1900
die bekannte Behauptung auf, jeder Traum sei ein Wunschtraum, der Sinn
eines jeden Traums sei Wunscherfüllung (GW II/III, 139).
Freud gab den Wunsch genauer an mit infantilen verdrängten sexuellen
und aggressiven Wünschen. Diesen Hypothesen liegen weitere Voraussetzungen
zugrunde, nämlich die, dass Träume überhaupt eine Bedeutung
haben, und dass diese Bedeutung rekonstruiert werden kann. Drittens wird
die Behauptung aufgestellt, dass eine Rekonstruktion mit Hilfe der "freien
Assoziation" - sich freier assoziativer Einfälle überlassend
- gelingt. Genauer gesagt: Die freie Assoziation kann genau jenen Weg zurückverfolgen,
den der Traum zurückgelegt hat, um den Wunsch des Träumers zu
verschlüsseln.
Freud selbst war sich klar, dass diese Verallgemeinerung auf der Basis
eines einzigen Traum eines einzigen Träumers Widerspruch hervorrufen
muss. Gibt es nicht auch Angstträume, die der These vom Traum als
Wunschtraum widerspricht, fragt er seine Leser (GW II/III, 140). Freud
spürte, dass hier eine Gefahr lauert: Wer auf Grund eines einzigen
Traumes einen allgemeinen Satz formuliert, dem droht von jedem anderen
Traum, und sei es nur ein einziger, die Widerlegung. Er findet jedoch einen
vorzüglichen Weg, Recht zu behalten, indem er eine Unterscheidung
zwischen manifestem und latenten Trauminhalt trifft. Wenn der geträumte
Traum nichts von einer Wunscherfüllung in sich trägt, dann ganz
sicher aber der latente (unterschwellige) Trauminhalt. Der latente Trauminhalt
aber ist jener, den Freud in den manifesten hineinlegt. Freud und nur Freud
allein hatte die Einsicht in den Wunschcharakter aller Träume. Sollte
irgend jemand etwas anderes träumen, etwas, was nicht im mindesten
an eine Wunscherfüllung erinnere, dann, so Freud, sei auch das ein
Beweis für den Wunschcharakter: Der Träumer träume das nur,
weil er sich wünsche, Freud zu widerlegen (GW II/III 151f). "Damit
ist das Modell gegeben, mit dem Freud den kategorischen Widerspruch seiner
Kritiker zurückweist: Jeder Widerspruch ist nicht einfach eine Widerlegung
seiner
Theorie, sondern beinhaltet den Wunsch, er habe unrecht. Auf diese Weise
wird jede Möglichkeit, an der Theorie Kritik zu üben, unterboten."
(Forrester in Marinelli/Mayer, 23; Marinelli/Mayer in Marinelli/Mayer,
44) Nicht nur seine Kritiker, auch seine Anhänger wies er in die Schranken.
Ihre Beiträge zur Traumdeutung hätten "eben nur Bestätigungen,
keine Neuerungen" gebracht. ("Die Traumdeutung", 2. Aufl. 1909, 67)
Wer Freud kritisiert, der kann nur verrückt sein oder werden. Es
gibt eine lange Tradition innerhalb der Psychoanalyse, Kritiker zu pathologisieren:
Träumer, die etwas anderes träumen, als Freud wünschte,
befänden sich im neurotischen Widerstand gegen die Wahrheit. Freud
war wie ein Trickspieler, der eine Münze wirft und mit seinem Gegenüber
eine Wette abschließt, die lautet: Kopf gewinne ich, Zahl verlierst
Du. Der Vorwurf des Widerstandes hat sogar etwas Reales: Freuds Taschenspielertrick
ebenso wie seine unbeirrbar vorgetragene Theorie mußten einfach Widerstand
hervorrufen. Freud nahm es als gegeben, dass, wenn man den Sinn in einem
Traum
gefunden hat, es methodisch gerechtfertigt ist, alle Träume
als sinnvolle Gebilde anzusehen. Folgerichtig war er überzeugt, dass
das Gesetz, alle Träume seien Wunscherfüllungen (und sei es der
Wunsch, Freud zu widerlegen), sich in derselben Weise verteidigen ließ.
Ihm kam nicht in den Sinn, es könnte verschiedene Traumtypen geben,
die unterschiedlichen Charaktertypen zu eigen sind. Freud hatte nur den
einen Wunsch, unsterblich zu werden, ohne Rücksicht auf Logik, Tatsachen,
Wissenschaft und Redlichkeit. Ein Mittel dazu war, ehemalige Weggefährten
zu diskreditieren (siehe Appignanesi/Forrester: "Die Frauen Sigmund Freuds"
und Han Israels: "Der Fall Freud").
Eines der großen Rätsel um Freud ist, warum er bis heute
so ausführlich diskutiert wird. Sein Dogma vom Traumwunsch ist leicht
zu widerlegen und seine Methode nicht nur angreifbar, vielmehr kaum der
ernsthaften Erörterung wert. Schon sein Brief- und Diskussionspartner
in der Entstehungsphase der "Traumdeutung", Wilhelm Fließ, muss ihn
darauf aufmerksam gemacht haben, dass er, Freud, in den Träumen anderer
nur seine eigenen Gedanken hinein liest. Der hellsichtige Hinweis von Fließ,
Freud projiziere, statt dass er analysiere, führte offenbar zu einer
ernsten Krise und der schließlichen Entfremdung zwischen beiden,
denn Freud interpretierte die Bemerkung seines Freundes so, dass Fließ
meinte, seine (Freuds) Arbeitsweise sei wertlos. (Forrester in Marinelli/Mayer,
30f) Doch Freud war zu eingenommen von seinem Wunsch nach Größe,
als dass er von seiner fixen Idee hätte ablassen können. Freud
und die Psychoanalyse benötigen Feinde, um ganz sie selbst zu sein.
Später verdichtete sich die psychoanalytische Abwehr ihrer Kritiker
zu einem Schema, in welchem die Öffentlichkeit in ihrer Gesamtheit
als eine Art kollektiven, sich im Widerstand gegen die Psychoanalyse befindlichen
Patienten betrachtet wurden (Marinelli/Mayer, 46 Anm. 15). So vielleicht
wurde die Vorstellung geboren, die gesamte Menschheit sei neurotisch und
bedürfe der Psychoanalyse zur Gesundung.
Freuds "Traumdeutung" im historischen Wandel
"Die Traumdeutung" erlebte innerhalb von 30 Jahren acht Auflagen, die sich
deutlich voneinander unterschieden, schon allein vom Umfang her. Der Zweck
dieses Werkes war es unter anderem, die Psychoanalyse als neue, noch nie
dagewesene Wissenschaft zu etablieren. Diesem Schritt ging ein einzigartiges
und unwiederholbares Ereignis voraus: die Selbstanalyse Freuds. Bis ungefähr
1908 fungierte "Die Traumdeutung" als Ersatz für ein bis dato immer
noch nicht vorliegendes Buch über die Methode der Psychoanalyse. Die
erste Auflage betrug 600 Stück, die zweite von 1908 hatte 1050 (Marinelli/Mayer,
64). Eine zweite Phase bis 1918 ist gekennzeichnet durch einen kollektiven
und zunehmend konflikthaften Prozeß, das Buch in Richtung auf ein
Symbollexikon zu erweitern, in der dritten Phase (bis 1930) erstarrte "Die
Traumdeutung" zu einem historischen Dokument (Marianelli/Mayer, 39).
Die Psychoanalyse hatte von Anfang an damit zu kämpfen, dass Freud
seine Deutungspraxis nicht systematisch darlegte und er die Meinung vertrat,
seine neue Methode könne nur bei ihm selbst gelernt werden. Auch das
war eine strategische Entgegnung, um Kritiker kalt zu stellen; sie hatten
keine Chance, mit Argumenten durchzudringen, es sei denn, sie gingen bei
Freud in die Lehre. Bei ihm die Psychoanalyse zu lernen ging aber nur,
wenn man keine Widerstände hatte. Freud wich bis 1911 dem Ansinnen
aus, die Regeln darzulegen, wie aus den Einfällen des Analysanden
das Unbewußte zu rekonstruieren sei (siehe GW V, 7). "Die Traumdeutung"
behielt so lange den Status, auch eine vorläufige Einführung
in die Psychoanalyse zu sein. Ein Jahrzehnt lang war es der Fachwelt nicht
wirklich möglich, seine Methode und ihre Ergebnisse zu überprüfen.
Freud begab sich laut Marinelli/Mayer (sie Kuratorin des Sigmund-Freud-Museums
Wien, er ein offenbar noch junger Soziologe, Musikwissenschaftler und Wissenschaftshistoriker)
in ein weiteres Dilemma, indem er "Die Traumdeutung" im Vorwort dem engen
Kreis der Neuropathologen widmete, aber tatsächlich nichts Medizinisches
vortrug, vielmehr ein Thema wählte, das einen weiten Kreis von Menschen
ansprechen mußte. Den ersten Rezensenten fiel die ungünstige
Position zwischen offizieller Wissenschaft und Laienpublikum sofort auf.
Max Burckhard, ehemaliger Direktor des Burgtheaters, nahm für sich
ausdrücklich in Anspruch, als kluger und gebildeter Laie das Buch
lesen und verstehen zu dürfen und attackierte (am 6.1.1900 in "Die
Zeit") die Wunscherfüllungstheorie als eine Schöpfung aus der
Praxis des Nervenarztes, der "die ganze Menschheit aus der Isolierzelle
des Irrenhauses" betrachte. Freud habe Wünsche konstruiert und sie
dann seinen Patienten unterstellt, die sie ihm bestätigt hätten.
Auch die Fachwissenschaftler nahmen das Buch mit Skepsis auf. Sie kritisierten
den Einbruch halbgaren Gedankenguts in die Wissenschaft. Der Psychologe
William Stern bezeichnete die Theorie Freuds aus methodischen Gründen
als verfehlt und unannehmbar. Freud habe zunächst seine Träume
notiert und sich dann in ein Spiel freier Assoziationen begeben, das ihn
in einer Art Wachphantasie auf die unbewußten Wünsche zurückführte.
Stern: "Nunmehr wird die Hypothese aufgestellt, dass dieses freie Associationsspiel
entsprechend, nur in umgekehrter Folge, auch im Traum gearbeitet hat -
und der Zusammenhang zwischen dem Wünschen und dem Trauminhalt ist
hergestellt; was die Wachanalyse zufällig gefunden, wird für
die Traumsynthese zum Hauptinhalt gemacht. An diesem Verfahren ist nicht
weniger als alles zu bestreiten." (Stern, zit. in Marinelli/Mayer, 47f)
Auch eine der wenigen positiven Rezensenten merkt an, dass sich eine wissenschaftlich
überprüfbare Technik daraus nicht ergebe und die Methode sich
nicht lehren ließe (ebd., 48).
Eugen Bleuler in Zürich sorgte für eine frühe Rezeption
von Freuds Schriften und lobte die Fülle scharfsichtiger Beobachtungen
in der "Traumdeutung", war sich aber unsicher, wie er das "unbewußte
Schreiben" als Vorbereitung für eine Traumanalyse erlernen sollte.
Bleuler erkannte alsbald, dass es unmöglich sei, alles aufzuschreiben
(die Gedanken sind zu schnell); im Aufschreiben werde bereits eine Auswahl
getroffen, die "falsch" sein kann. Bleuler tippte in die Schreibmaschine,
mußte aber feststellen, dass er die meisten seiner Ideen, die er
aufschrieb, schon vorher wußte, also fast nie neues, unbekanntes
Gedankenmaterial zum Vorschein kam. Auch mußte Bleuler erkennen,
dass die Deutung eines seiner eigenen Träume nur allzusehr von den
Gedanken des Deuters gefärbt wurde. Der Deuter (wie der Selbstdeuter)
kann niemals von sich selbst absehen und legt sich selbst in die Deutung,
eine wirklich freie Assoziation läßt sich so nicht herstellen.
Bleuler erkannte eine weitere Schwierigkeit: Die Deutung ist auf das
nach dem Träumen erinnerte Material angewiesen, dieses aber ist von
ganz unterschiedlicher Qualität, was nicht gesteuert werden kann.
Das Aufwachen kann schnell oder langsam geschehen, es kann viel oder wenig
Traummaterial die Qualität des Bewußtwerdens erlangen. Anschließend
muss es verbalisiert werden, und sei es zunächst nur in der gedanklichen
Rekapitulation, doch immer erfährt er eine Umarbeitung. Träume
werden niemals "rein" erinnert, ganz abgesehen davon, dass niemals alle
Träume erinnert werden. So sehr er sich auch Mühe gab, Bleuler
konnte nur erkennen, was er schon wußte (und lediglich vergessen
hatte); er hatte das unabweisbare Gefühl, nicht an sein Verdrängtes
zu stoßen. Bleuler resignierte und schrieb Freud bewundernd, die
Psychoanalyse sei eine Kunst, die nicht gelernt werden könne und angeboren
sein müsse (ebd., 53ff).
Ebenso erging es Carl Jung, Bleulers Assistenzarzt und späteren
Freud-Intimus. Auch Jung assoziierte mit seinen Träumen nichts, was
diesem nicht schon bekannt gewesen wäre (ebd., 57), der Zugang zum
Unbewußten schien ihm nicht gelingen zu wollen. Schon gar nicht führten
ihn die Traumdeutungen zu infantilen verdrängten sexuellen und aggressiven
Wünschen. Auch andere, Freud nahestehenden Personen hatten (eingestanden
oder uneingestanden) Schwierigkeiten mit den Freudschen Vorgaben. Der Sexualforscher
und Psychotherapeut Wilhelm Stekel meinte, dass sexuelle Träume ein
allgemein menschliches Phänomen darstellten und deshalb keine Bedeutung
für die Entstehung von Neurosen hätten. Ist die Traumdeutung
also doch nicht der Königsweg zum Unbewußten, wie Freud postulierte?
(Auch den Ödipuskomplex hielt Stekel für eine normale Erscheinung,
die nur in der Überzeichnung ein pathologisches Phänomen sei.)
(Marinelli/Mayer, 63)
"Die Traumdeutung" richtete sich offiziell an Ärzte, hatte aber
Effekt hauptsächlich beim Laienpublikum. Patienten erschienen nun,
die das Werk schon aus eigener Lektüre kannten und bereits psychoanalytisch
träumten. Nicht der Widerstand gegen Freuds "Traumdeutung" war das
Problem, vielmehr die nur allzu bereitwillige und vorschnelle Annahme der
Lehrsätze. Damit war das Überraschungsmoment des Analytikers
gefährdet, der allein für sich in Anspruch nahm, Träume
des Analysanden deuten zu können. Jetzt aber kannte der Analysand
die Kniffe des Therapeuten im voraus. Freud glich dem Feldherrn, der dem
Feind seinen Feldzugsplan auslieferte. Die Träume verloren ihre Unschuld,
die Unvoreingenommenheit war dahin. "Das Lesen von Freuds 'Traumdeutung'
hatte einen Prozeß eingeleitet, der die Träume der Leser dahingehend
veränderte, dass ihre Traumgedanken noch weiter entstellt und ihre
psychische Zensur verstärkt wurden." (Marinelli/Mayer, 68) Freud und
die Psychoanalyse standen also vor dem Paradox, mit der Aufklärung
über das "wahre Wesen" der Träume diese Träume unbeabsichtigt
in eine vorgegebene Richtung zu manipulieren. Das wiederum behinderte und
begrenzte die freie Assoziation. Stärker und stärker wird der
Verdacht, dass die ganze Konstruktion der psychoanalytischen Traumdeutung
nicht dazu geeignet ist, den Weg ins Unbewußte zu bahnen.
Symbolforschung
Neben der Theorie der Traumdeutung trat alsbald eine "Sammelforschung",
die mit Beispielen aus den Therapiestunden einerseits und aus Dichtung,
Mythos und Folklore andererseits die weiteren Auflagen zusehends füllte.
Damit sollte erstens bewiesen werden, dass Freuds Träume und ihre
Inhalte auch außerhalb Freuds existieren, und zweitens, dass die
jeweiligen Traumsymbole unabhängig vom individuellen Träumer,
vielmehr zeit- und kontextlos ihre Gültigkeit haben. Indem nach der
Universalität typischer Symbole gesucht wurde, löste sich die
Deutungstechnik vom konkreten Träumer, ebenso wie sich die Traumsymbolik
von der psychoanalytischen Situation entfernte. Mit der Suche nach allgemeinverbindlichen
Inhalten der Symbole wurde die freie Einfallstechnik weiter eingeschränkt.
Gleichzeitig vereinheitlichte sich nicht etwa die Deutungstechnik der Träume,
sondern begann sich in widersprüchlicher Weise aufzuspalten - weitere
Argumente dafür, die These von der Traumdeutung als via regia
zum Unbewußten in Frage zu stellen. Die Möglichkeit, eine verbindende
Deutungstechnik der Psychoanalyse zu finden, die ja immer noch auf sich
warten ließ, rückte in weite Ferne. Besonders Stekel praktizierte
ein intuitives Deuten, das bei Freud nicht auf Wohlwollen stieß,
vor allem weil Stekel das wilde Analysieren bei einem Laienpublikum förderte.
Marinelli/Mayer sprechen im Zusammenhang mit dem von Stekel herausgegebenen
"Zentralblatt" von einer "diskursiven Explosion um die Psychoanalyse, in
der sich Gerüchte, Tratsch und Alltagspsychologie vermischten", zum
Entsetzen Jungs, der sich in dem von ihm redigierten "Jahrbuch" der "exakten
Wissenschaft" verschrieben hatte (Marinelli/Mayer, 76).
Freud trug mit der "Traumdeutung" selbst zu all dem bei, zum einen,
weil das Werk trotz entgegengesetzter Absicht alles andere als medizinisch
abgefaßt war, zum anderen durch eine Traumsymbol-Auflistung, die
uns Heutigen geradezu grotesk anmuten muss, die aber direktes Ergebnis
der sogenannten Sammelforschung war und durchaus in Freuds Bestreben lag:
"Stiege ist ein in Stein gehauener Coitus. Glatte Wände
sind
Männerkörper [...] Enge Gänge, die sich zu Gefängnis
verdichten. Intrauterin." (Zit.in Marinelli/Mayer, 78) Wohnungswechsel
gleich Ausziehen gleich Entkleiden; Lift (Fahrstuhl) gleich "to lift" (engl.),
also Kleider aufheben gleich sich entkleiden; die Frage im Traum, ob man
einen auf der Straße liegenden Ast mitnehmen darf gleich masturbieren
(Freud: "Der Ast hat längst die Vertretung des männlichen Genitales
übernommen") (ebd., 93). Stekel hatte mit seinem Buch "Die Sprache
des Traums" und weiteren Beiträgen seinen Meister in Hinsicht auf
krude Deutungen und hanebüchene Konstruktionen noch übertroffen,
so dass die Schweizer Psychoanalytiker schrieben, "im einzelnen widerlegen
ist da unmöglich, wo man fast alle Grundlagen bestreiten muss" (ebd.,
80). Stekel erfuhr in Fachkreisen die gleiche heftige Ablehnung wie Freud.
Hinzu kam, dass im Zusammenhang mit der ausufernden Sammelforschung
rivalisierende Theorien auftraten, die Anspruch auf Universalität
erhoben, die schlecht zurückgewiesen werden konnte, nahm sich doch
Freud selbst dieses Recht, und die in den gesammelten Träumen immer
eine Bestätigung, nie eine Widerlegung fanden. Adler belegte mit eigenen
Träumen seine These vom Hermaphroditismus als Tendenz eines jeden
Traums und leitete damit die erste einer langen Reihe von Spaltungen innerhalb
der Tiefenpsychologie ein. Stekel schlug sich auf die Seite Adlers, und
Freud mobilisierte eine Reihe von Träumen für die dritte Auflage,
um die beiden zu widerlegen. Der Universalitätsstreit hatte mit Wissenschaft
kaum noch etwas zu tun, während gleichzeitig Freud von Jung bedrängt
wurde, die Traumanalyse zu systematisieren und auf einen kleinen Kreis
von Eingeweihten zu beschränken. Dazu sollte "Die Traumdeutung" mit
Hilfe des jungen Otto Rank entpersönlicht, also von Freuds Ur-Traum
befreit und objektiviert werden.
Im Verlauf dieses Prozesses erfuhr "Die Traumdeutung" ihre stärkste
Umgestaltung. Freud modifizierte jetzt sein Dogma, indem er in der dritten
Auflage 1911 postulierte: "Der Traum stellt regelmäßig auf der
Grundlage und mit Hilfe verdrängten infantil-sexuellen Materials aktuelle,
in der Regel auch erotische Wünsche in verhüllter und symbolisch
eingekleideter Form als erfüllt dar." (GW II/III, 166) Damit wurde
die Traumdeutung auf komplizierte Weise mit dem Ödipuskomplex als
regelhaftes Durchgangsstadium eines jeden Jungen einerseits und der Spezialgruppe
von Träumen vom Tod enger Beziehungspersonen andererseits verknüpft.
Behauptet wurde damit nichts anderes, als dass kleine Jungs ihre Väter
lieber tot als lebendig sehen und mit der Mutter Sexualität haben
wollen. Das war eine eindeutige Regel und eine deutliche Eingrenzung des
Inhalts von Wunschträumen. Es tauchte jedoch sofort ein Problem auf,
das Freud bei seiner psychoanalytischen Hypothesenbildung von Anfang an
begleitete: "Sowohl die Selbstanalyse als auch die Patiententräume
lieferten Freud dazu nur wenig Material." (Marinelli/Mayer, 89) Es war
schon damals unübersehbar, dass "Träume vom Tode theurer Verwandter"
keineswegs häufig sind. Freud griff zu seinem üblichen Dreh,
etwas zu behaupten, was er nicht beweisen konnte: "Ich kann versichern,
dass die verkappten Träume vom Sexualverkehre mit der Mutter um ein
Vielfaches häufiger sind als die aufrichtigen." (GW II/III, 403) Hingegen
Marinelli/Mayer: "Auch bei seinen Patienten war Freud zunächst wenig
erfolgreich: Sie gaben meist an, sich an solche Träume nicht erinnern
zu können." (Marinelli/Mayer, 89)
Das fleißige und ergiebige Sammeln von Träumen durch Freud
und seinen Kreis diente dazu, die Wunscherfüllungsformel und die Sexualsymbolik
durch schiere Masse zu untermauern. Der junge Otto Rank veröffentlichte
1921 "Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage", ein Buch, das laut Marinelli
und Mayer strategisch gegen Carl Jung und seine Abweichung von Freuds Sexualtheorie
gerichtet war. Für Jung war ein Inzest im Traum selbst nur ein Symbol
(für etwas anderes). So sehr die Auffassungen der Wiener und der Zürcher
divergierten, beide Gruppen hingen dem Symbolismus an und interpretierten
Symbole nach jeweils eigenen Vorgaben, so dass kein Erkenntnisfortschritt
erwuchs. Der Spekulation war Tür und Tor geöffnet. Von einem
Feld zu träumen und den Acker zu bebauen, heißt nicht nur Koitieren,
sondern "sein Werk tun", betonte der Züricher Alphonse Maeder in bewußtem
Widerspruch zu Freud (ebd., 113f).
Der Wiener Philosoph Herbert Silberer behauptete, dass die in Mythen
auftauchenden Figuren Symbole für unmittelbare psychische Kräfte
seien. Silberer selbst hatte einmal auf einem Sofa liegend und mit dem
Schlaf kämpfend an einem Problem geknobelt, als ihm das Bild eines
unwilligen und abweisenden Schreibstubenbeamten erschien. Der Beamte dünkte
ihm Symbol für sein ungelöstes gedankliches Problem; die psychische
Arbeit personifizierte sich. Silberer machte daraus gleich ein Prinzip.
So wurden ihm z.B. der Teufel und andere Dämonen von Märchen
zu "Personifikationen des unterdrückten, nicht sublimierten elementaren
Trieblebens" (Marinelli/Mayer, 100, Anm. 145). Silberers Traumdeutungen
ging das sexuelle Moment völlig ab, und ein Rezensent rief verblüfft:
"Man ist förmlich überrascht, zu erfahren, dass es auch nichtsexuelle
Träume gibt." (ebd., 102) Die Freudianer kamen aber an keinem Punkt
der Traumforschung weiter, weil sie nicht unterscheiden konnten, was bei
einem gedanklichen Bild Symbolisierung und was direkter psychischer Ausdruck
der aktuellen Situation des Träumers (oder des Somnambulen) war. Freud
lehnte Silberers Annahme ab, es könne von den Symbolen aus auf den
Zustand des Träumers oder Introspektionisten geschlossen werden. Wo
der Träumer oder Introspektionist zu sprechen glaubt, spreche tatsächlich
die Instanz der Zensur (ebd., 106).
Ungelöste Probleme
Die Differenzen in der Traumtheorie und der Deutungstechnik waren nicht
zu beheben und führten zum Bruch mit Adler und Jung, weil alle Seiten
nicht einmal im Ansatz eine Theorie der Erkenntnis, des Denkens, der Logik
des Forschens oder von Wahrheit hatten. Es ist keineswegs so, dass derartige
Überlegungen oder Erkenntnisse zur damaligen Zeit nicht vorhanden
gewesen wären. An der Wiener Universität lehrten herausragende
Physiker und Mathematiker, die sich mit dem Erkenntnis- und Wahrheitsproblem
beschäftigten, wie Karl Popper in seiner intellektuellen Autobiographie
"Ausgangspunkte" (1974) schreibt. Popper, der eine Zeit lang Sozialarbeiter
war, hatte Adler in den 20er Jahren kurz in einer der Wiener Erziehungsberatungsstellen
kennengelernt. Nach Poppers Verdikt sind Psychoanalyse und Individualpsychologie
"Pseudowissenschaften", weil sie sich weder beweisen noch widerlegen ließen.
Es war auch nicht so, dass die psychoanalytischen Pioniere mit der Traundeutung
und ihren Schwierigkeiten Neuland betraten, wie oftmals entschuldigend
vorgebracht wird. Freuds "Traumdeutung" selbst beginnt ja mit einem Kapitel
über bis dato erfolgte Traumforschung, doch behauptet er, sie hätten
"nichts oder wenig" zum Wesen des Traums beitragen können (1. Auflage,
S.1).
Ein weiteres, nicht gelöstes Problem betrifft die Frage nach der
Vollständigkeit der Traumdeutung (die Frage erwuchs auf der Grundlage
des bis dahin immer noch fehlenden Traumdeutungstechnik). Die "letzten
wirklichen Motive" eines Träumers könnten doch nicht "schonungslos"
aufgedeckt und vor Publikum ausgebreitet werden, kreise der Traum doch
um eine höchste Peinlichkeit. Doch wenn ein Traum nicht vollständig
bekannt ist, kann er auch nicht vollständig gedeutet werden (ebd.,
109). Und schreiben wir unsere Träume so auf, wie wir sie träumten?
Werden in der Reihe Traum - Erinnerung - Schrift - Erzählen - Deuten
nicht unkontrolliert Modifikationen vorgenommen, die immer weiter weg führen
vom eigentlichen, wahren und ursprünglichen Traum? Und selbst wenn
ein Traum vollständig bekannt ist, ist sein Erschließungstext
nicht potentiell endlos? All diese Unmöglichkeiten und Aporien verstärkten
die Aussichtslosigkeit, jemals zu einer allgemein verbindliche Deutungstechnik
und zu einer abgeschlossenen Traumdeutung zu kommen. Wie die Puppe in der
Puppe kann in jedem gedeuteten Motiv ein weiteres Symbol stecken.
Der Streit ging ferner darum, ob der Traum eher auf den vergangenen
Tag verweise oder teleologisch zu interpretieren sei. Die Züricher
Gruppe hatte zudem Probleme mit Freuds Verdikt, der Traum sei der "Hüter
des Schlafs". Auch die Rolle der Selbsterkenntnis geriet ins Wanken. War
Verlaß auf die Deuterei des Analytikers? Wie konnte verhindert werden,
dass sein Charakter, wenn nicht gar seine Neurosen die ohnehin unsichere
Deutung manipuliert? Die Selbstanalyse wurde als nicht mehr ausreichend
erachtet. Freuds Rolle als der erste und exemplarische Traumdeuter wurde
damit in Frage gestellt. (ebd., 111)
Zweifellos ist die Freudlektüre noch heute ein wesentlicher Bestandteil
der psychoanalytischen Ausbildung. Die Freudlektüre ist der obligate
Punkt, den jeder zu passieren hat, der sich Tiefenpsychologe nennen will.
Ein Freudianer (Adlerinaer, Jungianer) wird man zuallererst, indem man
liest. Indem immer mehr Analytiker eine immer reglementierte Ausbildung
durchliefen, erhielt "Die Traumdeutung" schließlich den Staus eines
historischen Dokuments, "das für die Psychoanalytiker zwar als Gründungstext
seinen Wert behielt, doch, mittlerweile von den Fortschritten überholt,
aus einer fernen und zugleich 'wilden' Zeit stammte." (ebd., 118) Das Buch
wurde Zeugnis eines singulären Ereignisses, der Selbstanalyse Freuds.
Mit dieser Ansicht habe ich keine Probleme, doch sehe ich nicht die Fortschritte,
von denen Marinelli/Mayer sprechen. So gut wie alle Probleme, die "Die
Traumdeutung" aufwirft, waren sofort ersichtlich und sind bis heute ungelöst.
Warum sollte der Traum die "Nachtseite" des psychischen Apparats darstellen?
Was ist der Unterschied zwischen neurotischen und gesunden Träumen?
Warum verortete Freud den Traum in der Neuropathologie? Freud glaubte,
Neuland zu betreten, aber er konnte das Terrain nicht abstecken und vermessen.
Viele Laien ebenso wie ein hochgebildetes wissenschaftliches Publikum zeigte
sich fasziniert vom Thema, bemerkte aber, sofern es sich nicht durch Freuds
ausgefeilte Sprache blenden ließ, die Lücken und Ungereimtheiten.
Es war auch nicht so, dass sich Freud tastend in einen unbekannten Kontinent
vorwagte, vielmehr war man sich damals schon des Werts methodischer Strenge,
die für den Fortschritt der Wissenschaft unentbehrlich ist, klar bewußt,
doch Freud hatte kein Sensorium dafür. Freuds Ehrgeiz war geprägt
von einer bemerkenswerten Mißachtung des Standes der Forschung. Die
Traumexperimente waren bereits damals erstaunlich ausgefeilt und führten
zu mannigfachen Erkenntnissen (über die Alexandre Métraux berichtet).
Indem Freud diese Ergebnisse ignorierte, stellte "Die Traumdeutung" nicht
nur keinen Fortschritt, sondern einen Rückschritt dar, mit der Folge,
dass viele Psychologen teilweise noch heute unwillig sind, die hirnphysiologische
Forschung zur Kenntnis zu nehmen.
Ich bin mir nicht sicher, ob es intendiert war, aber die Aufsatzsammlung
"Die Lesbarkeit der Träume" von Marineli/Mayer ist in der Konsequenz
eine komplette Vernichtung der "Traumdeutung", indem sie mit Hilfe der
historischen Rekonstruktion sämtliche Denk- und Konstruktionsfehler
dieses Werkes schonungslos offenbart. Alle Argumente liegen auf dem Tisch,
dieses Werk Freuds als das Dokument eines Scheiterns zu lesen, als ein
nicht lebensfähiges Konstrukt, als einen grandiosen Fehlstart in die
Psychoanalyse, von Freud aber mit geradezu verblüffendem Ernst vorgetragen.
Vom Start weg war "Die Traumdeutung" kaum mehr als ein interessantes Diskussionsobjekt,
das schon ab den 30er Jahren nur noch unser historisches Interesse in Anspruch
nehmen darf.
Gerald Mackenthun
Berlin, Mai 2000
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Die Lesbarkeit der Träume.
Zur Geschichte von Freuds "Traumdeutung"