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Rattner, Josef : Klassiker der Tiefenpsychologie, München 1990, 850 Seiten, Psychologie Verlagsunion

Lest die Klassiker!

Hier liegt eine voluminöse Aufsatzsammlung vor, die in das Werk der Klassiker der Tiefenpsychologie einführt. Auf jeweils 20 - 40 Seiten werden 32 Autoren vorgestellt, wodurch ein Resümee der knapp 100-jährigen tiefenpsychologischen Forschung gezogen wird.

Das umfängliche Werk (850 Seiten) gliedert sich in sieben Teile: Die Erzväter; Frühe Psychoanalytiker; Neopsychoanalyse; Ein Neo-Adlerianer; Auf dem Weg zur Psychosomatik; Psychoanalytiker der dritten Generation und schließlich Phänomenologen, Daseinsanalytiker, Existentialpsychologen. Die einzelnen Aufsätze, die z.T. schon in früheren Veröffentlichungen des Autors erschienen sind, gliedern sich in einen kurzen biographischen Abriß zu den jeweiligen AutorInnen, die Darstellung der wichtigsten Elemente der Lehre und der zentralen Werke, eine kritische Bewertung und schließen mit Literaturhinweisen zum weiteren Studium.

Es ist unmöglich hier auf alle besprochenen AutorInnen einzugehen. Nach willkürlicher Wahl beschränke ich mich auf einige kurze Hinweise. Da wird z.B. Alfred Adler als früher psychosomatischer Denker gewürdigt und vor allem die sonst übliche Auffassung Adlers als "Machtpsychologe" korrigiert, indem das "Machtstreben" in den richtigen Zusammenhang gestellt und als Deformation des genuinen menschlichen Strebens nach Vollkommenheit benannt wird.

Bei Wilhelm Stekel, eine eher pittoreske Erscheinung in der Psychoanalyse, findet sich immerhin schon das heute wiederentdeckte Therapeutikum der Freude. Auch nahm er den von Freud später in den Mittelpunkt gerückten Dualismus von Lebens- und Todestrieb bereits vorweg, wie er überhaupt leichthin Tiefgründiges bemerkte (z.B. die Gründung jeder Angst in Todesangst). Ein Journalist unter den Psychoanalytikern, der oft Genauigkeit vermissen läßt, "der aus Freud kleine Münze macht (Kafka)" und sich als wilder Traumdeuter betätigte, tritt uns hier entgegen. Dabei imponiert er durch seine "erstaunliche Rezeptivität" und Emsigkeit; seine vielfältigen Falldarstellungen machen ihn zu einer Fundgrube für den Psychotherapeuten.

Zwei Schüler Freuds werden eindrücklich in ihrer Leistung für die Psychoanalyse gewürdigt: Karl Abraham und Otto Rank. Dabei war Abraham der weniger originelle Schüler, blieb Freud bis zu seinem sehr frühen Tode (er starb im Alter von 48 Jahren) treu. Rank hingegen war eventuell der wünschbare Schüler. Nahezu zwanzig Jahre lernte er fleißig und aufopferungsvoll, um dann aber in mancher Hinsicht über die orthodoxe Psychoanalyse hinauszuwachsen. Noch heute scheint man ihm seinen "Abfall" von der "wahren Lehre" übelzunehmen, ihn auf seine teilweise abstrus anmutende Geburtstraumatheorie zu reduzieren. Dabei wird vergessen, daß er Wesentliches zu einer Psychologie der Normalität, der Kunst und des Künstlers beigetragen hat. Sandor Ferenczi wird als warmherziger Mensch dargestellt, der wesentliche Beiträge zur Behandlungstechnik lieferte. Theodor Reik hat sich einen Namen in der Religions-, Literatur- und Krimminalpsychologie gemacht und zur Erforschung des Masochismusproblems in seiner individuellen und ge

Ließt man den Aufsatz über harald Schultz-Hencke, käme man nie auf den Gedanken, daß seine wertvollen systematischen Darstellungen "staubtrocken" sind. Schon deswegen werden sie nach Rattners Prognose für die Zukunft eher von historischem Interesse sein. Erich Fromm gilt als Schöpfer der soziologischen Psychoanalyse, worin er viel geleistet hat. Allerdings verdankt er seine Popularität zu einem nicht unerheblichen Teil seiner tiefsitzenden Religiosität. Karen Horney hat sehr eingängige an der phänomenologischen Beschreibung orientierte Darstellungen neurotischer Verstrickungen vorgelegt. Sie muß sich aber die Kritik gefallen lassen, besonders bei Alfred Adler geräubert zu haben, wie sie überhaupt ihre Vorgänger in der Freudkritik kaum würdigt oder bloß in Nebenbemerkungen kurzerhand abtut.

Rattner betont in seinen Darstellungen immer das Wertvolle der Arbeiten der Klassiker, stellt ihre Theorien prägnant und in flüssigem Stil dar. Es wird deutlich, daß letztlich alle Nachfolger ihr Denken an Freud orientieren, der eine Fülle von Gedanken angeregt hat. Rattners Standpunkt zeigt sich u.a. darin, daß er die Befunde Adlers bei vielen Autoren wiederfindet. Erstaunlich viele haben anscheinend Adler ausgeschlachtet, ohne ihn zu würdigen.

Die psychiatrischen Neuerer sind im vorliegenden Band natürlich auch vertreten. Harry Stack Sullivan, Frieda Fromm-Reichmann, Ronald D. Laing und Thomas Szasz sind nicht vergessen. Von den Psychosomatikern werden natürlich Georg Groddeck, Franz Alexander und Viktor von Weizsäcker erwähnt.

In der Kritik zeigt sich Rattners eigener Standpunkt. Bei aller Freundlichkeit in der immer gut leserlichen Darstellung, ist er unerbittlich, wenn einer der Autoren hinter die Freudsche Kultur- und Religionskritik zurückfällt (z.B. v. Weizsäcker) oder sich sonst in konservativen Gräben verliert (hiervon kann natürlich Freud nicht ausgeschlossen bleiben). So würdigt Rattner Georg Groddeck als Wegbereiter der Psychosomatik, hält ihm aber seine "Sünden" gegen ein erkenntnistheoretisch "sauberes" Denken vor, das ihn in die Zeit der romantischen Medizin zurückfallen läßt.

Das ganze Buch ist ein Bekenntnis zur Aufklärung, wobei Rattner freundlich, aber bestimmt, aufzeigt, wo jemand hinter der Aufklärung zurückgeblieben, gar zur "Gegenaufklärung in der Tiefenpsychologie" zu rechnen ist (C.G. Jung, V.E. v. Gebsattel).

Die stärker philosophisch orientierten Vertreter weiß Rattner dem Leser relativ leicht verdaulich zugänglich zu machen, was als Beleg für die philosophische Orientierung des Autors gelten kann. Aber auch hier läßt er Einseitigkeiten nicht durchgehen, wie sie etwa in der Gründung der Daseinsanalyse Medard Boss' auf die Philosophie Martin Heideggers zum Ausdruck kommt.

Nach Meinung des Rezensenten legt das Buch Zeugnis ab von der gewaltigen Belesenheit des Autors. Die gute Lesbarkeit der Texte, sowie der sich in ihnen bekundende Überblick über die gesamte Tiefenpsychologie macht es für das Grundstudium der Psychologie unentbehrlich. Der Verlag hat dem durch seine Preisgestaltung den Weg geebnet.

Dipl.-Psych. B.Kuck

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Klassiker der Tiefenpsychologie