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Hartmann, Nicolai: Teleologisches Denken. Berlin 1944, zweite, unveränderte Auflage 136 S., 1966, Verlag Walter De Gruyter, Berlin


Das Buch ist eine Generalkritik des "teleologischen Denkens". Teleologie ist die Vorstellung, dass nicht nur alle Lebensformen, sondern auch der Kosmos, die Erde oder die Geschichte auf ein vorbestimmtes Ziel zusteuern, ein Ziel, das eine höhere Macht gesetzt hat. Teleologisches Denken ist seit den antiken griechischen Philosophen das vorherrschende Denken der Philosophie, und auch im praktischen und Alltagsdenken ist die Vorsehung oder Finalität herrschend. Die Teleologie besteht in der "Finalisierung der Welt", also die Vorstellung vom unbedingten Wirken der Vorsehung. Scheinbar völlig unbeeindruckt vom Zweiten Weltkrieg stellte Nicolai Hartmann seine Kritik und Analyse der Teleologie 1944 fertig; 1966 erschien das schmale Werk in einem unveränderten Nachdruck in einer sehr schönen Ausgabe mit goldener Schrift auf königsblauem Grund.

Da alles auf ein Finale hinzusteuern schien (seit Aristoteles war für jahrtausende "Entwicklung" ein "auswickeln" des bereits keimhaft Vorhandenen), wurde das Forschen nach Kausalitäten praktisch verunmöglicht. Wenn A sich nach B hin entwickelte, schien es den Philosophen und Menschen immer so, als ob die Götter, eine göttliche Vorsehung oder ein Weltgeist die Entwicklung hin zu B in der Hand hätten. Das Abhängigkeitsverhältnis "A nach B" erschien als teleologisches, d.h. A wird von B her determiniert. Descartes, Kant, Hegel, Giordano Bruno – alle folgten, wie Hartmann herausarbeitet, der griechisch vorgebildeten, teleologischen Denkweise, die wie ein Dogma wirkte.

Die Missachtung der ebenfalls möglichen Kausalität beruht nach Hartmann nicht nur auf der Starrheit des Dogmas, sondern mit auf dem Umstand, dass sich auf den ersten Blick nicht angeben lässt, ob zwischen A und B ein Kausal- oder ein Finalverhältnis besteht. Von Punkt B aus betrachtet kann die Verbindung zu A sowohl kausal als auch teleologisch untersucht werden. Der Entwicklungspfeil von A nach B ist in landläufiger Vorstellung kausal, von B nach A betrachtet teleologisch. Beide arbeiten aber mit A und B.

Wo die Kausalität mühsam die Ursachen zusammengesucht, setzte das finale oder teleologische Denken beim Ende ein, erklärt B für den Zweck des Geschehens und kann daraus schließen, dass sich diese Entwicklungsrichtung ergeben musste, weil der Zweck eben jenes Ende forderte. Wenn das zukünftige das gegenwärtige bestimmt (B bestimmt A), so muss dieses Denken deterministisch genannt werden. Letzteres begegnet uns vor allem im religiösen Fatalismus und in gewisser Weise auch – ganz aktuell – in der Negierung eines freien Willens in einem übertriebenen Hirnbiologismus.

Hartmann zerpflückt nun in wissenschaftlicher Nüchternheit und analytischer Kälte die Denkschludrigkeiten der Teleologie, die attraktiv ist, weil sie von der mühsamen Suche nach Kausalität enthebt, weil sie schnell und ohne große Anstrengung "Gründe" für Entwicklungen und Ergebnisse liefert und weil sie den ungeliebten Zufall und das Sinnlose aus der Welt eliminiert. Damit ist noch nicht bewiesen, dass der A-B-Ablauf keinen finalen Charakter hätte. Anders gesagt: Es gibt eine - und nur eine - exquisite Sphäre, in welchem Teleologie zum Zuge kommt, und das ist die menschliche. Finale Determination ist immer dann gegeben, wenn menschlicher Vorsatz und menschliche Entscheidung zu dem Ergebnis führten, das von einem Menschen angestrebt wurde. Die Teleologie konnte sich durchsetzen, weil der Mensch in ihr erneut einen seiner Hauptdenkfehler praktizierte, nämlich seine Weltvorstellung auf Gegebenheiten jenseits des Menschlichen auszuweiten. Planendes Handeln ist dem Menschen geläufig, also - so der falsche Analogieschluss - wird auch im Anorganischen, Organischen, Kosmischen, im Lebensschicksal usw. eine zwecksetzende und planende Kraft am Werke sein.

Hartmann bleibt in seiner Kritik der Teleologie weitestgehend im Allgemeinen, ich denke aber, man kann seine Worte auch auf die Psychosomatik beziehen. Die Psychosomatik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts postulierte: wenn wir die Biologe des Menschen verstehen wollen, so müssen wir sie auch auf ihren Sinn hin ansehen, müssen wir ihr also einen Sinn zuschreiben. Das Sinnverstehen, betont Hartmann, ist aber nur dort angebracht, wo ein bewußter Verstand einen Zweck setzen kann. Der Biologie, und das heißt den Krankheiten der Menschen einen Sinn zuzugestehen, würde bedeuten, das die biologische Natur des Menschen einen Verstand enthalten müsse. „Unbewusste Intelligenz“ ist nach Hartmann ein Widerspruch in sich, er gesteht einzig einer mehr oder minder bewussten, menschlichen Denkhandlung die Potenz zu, einen Zweck zu setzen. Der Mensch nimmt eine Sonderstellung ein.

Hartmann sieht metaphysisches, teleologisches und spekulatives Denken in der Typisierung des Menschen und in der Behauptung einer Zwecksetzung, in der Sinnsuche, in der Wertsetzung auch außerhalb des menschlichen Wollens und Begehrens. "Lebensideal" oder "Lebensstil" stellen sich unwillkürlich als Zweck des Individuums dar. Das Tun des Menschen erscheint dann als Mittel zur Verwirklichung dieser Ziele. Hartmann hält Typisierungen für durchaus sinnvoll, es komme aber darauf an, ob die in den Typen steckenden Zwecke vom Menschen gesetzt oder von einer höheren Instanz vorgeschrieben sind. Wenn die Zwecke vom Menschen gesetzt werden, ist zu fragen, ob bewusst oder unbewusst. "Unbewußte Zwecksetzung" erscheint ihm fragwürdig, es wäre, als ob im Menschen eine weitere Instanz existiert, die ihn steuert. Durch das ungeheure Geflecht von Wechselwirkungen mit der Außenwelt ist eine "Einheit" und "Ganzheit" aber schlecht anzunehmen. Deshalb die Tendenz des teleologischen Denkens, sich des ganzen Umstandes zu entledigen und das Individuum unbedingt handelnd aufzufassen, und deshalb die Tendenz, die zufällige Wechselwirkung und ihre unvorhersehbaren Ergebnisse auszublenden und das Zusammenlaufen allen Geschehens auf einen Einheitszweck hin zu postulieren.

Die "Einheit" (der Neurosen), die Behauptung einer "Ganzheit" (der Person), die Betrachtung des Menschen als unteilbar, also als Individuum, sind Ausfluss teleologischen Denkens und damit - nach Hartmann - metaphysisch und naiv. Man könnte denken, Hartmanns Philippika gegen die Teleologie richtet sich direkt gegen Alfred Adler und die Individualpsychologie (den Hartmann allerdings nicht erwähnt). Adler hing eindeutig der Aufhebung der kausalen Struktur der Welt an. Die Abgrenzung des finalen Denkens Adlers zum kausalen Denken Freuds ist aber praktisch unnütz, beide haben jeweils Elemente des anderen in sich - und zwar denknotwendig. Beide arbeiten mit A und B, Sigmund Freud beispielsweise mit dem Trieb (A) und dem Lustgewinn (B), Adler mit Minderwertigkeitsgefühl (A) und Geltungsstreben bzw. anderen Formen der Kompensation (B). Adlers Postulat der Einheit und Ganzheit der Person, die einem einmal in der Kindheit angenommenen Lebensstil bis zum (bitteren) Ende hin verfolgt, ihre "Entscheidung" für eine Charakterausformung schon im Kindesalter können mit Hartmann einer deutlichen Kritik unterzogen werden.

Doch ganz so einfach ist es nicht. Adler berücksichtigte auch das Milieu, den Erziehungsstil der Eltern, den Schuleinfluss und vieles mehr. Adlers eifersüchtige Abgrenzung zu Freud bleibt mit Hartmann gesprochen gleichwohl fragwürdig. Denn Hartmann arbeitet ein interessantes Schema heraus, das das komplizierte Wechselspiel von Kausalität und Finalität integriert. Im 1.Akt setzt das Bewusstsein einen Zweck (B) und antizipiert das Künftige. In einem 2.Akt werden die Mittel unter Berücksichtigung des Ziels B vom gegebenen Zeitpunkt A aus ausgewählt. Der 3.Akt ist die Realisation dieser ausgewählten Einzelschritte vom gegebenen Ausgangspunkt A hin zum Ziel, Sinn oder Wert B. Die Finalität ist mehr als die Kausalität. Allenfalls der 3. Akt ist ein reiner Kausalnexus – ein Schritt bewirkt den nächsten und zuletzt den Zweck. Zur Realisierung der Zwecke braucht es die Kausalzusammenhänge, die Finalität setzt Kausalität voraus. Aber die Finalität ist nur einem Bewusstsein möglich. Was kausal unsinnig scheint, wird nachvollziehbar im Lichte der Zwecksetzung.

Hartmann meint, dass eine sinnlose Welt offen und zugänglich ist für eine Sinngebung. Sinngebung kann durchaus von der Menschenwelt ausgehen, der Mensch hat die Macht der Sinngebung. Die Welt ist nicht sinnlos oder sinnwidrig, sondern vor allem sinnindifferent und sinnoffen. Dass wir in der Sinngebung Irrtümern unterliegen, ändert daran nichts. Sinn kann es aber nicht an sich, sondern nur für jemand geben. Sinn und Wert können nur für jemanden existieren, sie existieren nicht an sich. Die Welt also kann keinen Sinn haben, bevor nicht jemand auftritt, der ihr diesen Sinn verleiht. Ohne den Menschen ist die Welt sinnindifferent. Das gleiche gilt für den Wert. Die Welt ist wertindifferent.

Wer aber Gott oder einer andern Macht die Sinn- und Werterfüllung auf der Erde zuschreibt, entkleidet den Menschen seines eigentlichen Wesens, nämlich ein Sinn- und Wertverwirklicher zu sein. Wenn Gott diese Aufgabe bereits übernommen hat, bleibt dem Menschen nichts zu tun. Dem Menschen als sittliches Wesen bliebe kein Spielraum und er wäre als Verwirklicher sittlicher Werte überflüssig. Die sittlichen Werte müssten dann sein Tun wie Naturgesetze determinieren. Damit bräuchte es auch keinen freien Willen mehr, denn er kann ja nicht anders handeln, als Gott will. Nach Kant aber beruht Gut und Böse auf dem Vorhandensein eines freien Willens, der sich entscheiden kann. Der freie Wille ist jedoch kein unbestimmter Wille. Sittliche Freiheit ist keine Unentschiedenheit, sondern gerade die positive Entscheidung, also Selbstbindung in der Determination.

Alles, was geschieht, ist eine endlose Kette von Kausalursachen, doch ein Teil der Kausalursachen lassen sich im Menschlichen beeinflussen. Der Kausalnexus ist überformbar durch die höhere Determination des Finalnexus. Hartmann erläutert das an einem Kräfteparallelogramm. Kausalität und Finalität verschmelzen in einem Kräfteparallelogramm, dessen Hauptrichtung die Resultante ist. Die Richtung der Resultante verschiebt sich immer wieder, weil unterschiedliche Kräfte auf sie einwirken und determinieren. Zahl, Stärke und Richtung der Determinanten sind kaum je steuerbar. Je komplexer ein menschengemachtes Werk, desto mehr Kräfte wirken auf es ein und desto ungewisser und unplanbarer ist der Ausgang. Die Adlersche Annahme, ein Individuum sei unteilbar und es sei durch seinen Lebensstil determiniert, erfährt mit Hartmann eine weitere Kritik. Die einfache Einsicht des Zerrens unterschiedlicher Kräfte an der "Einheit Mensch" wird immer wieder dadurch verdunkelt, dass man gewohnt ist, den Prozess vom Resultat (B) aus zu sehen, so als gäbe es nur die Resultante und als hätte es keine Determinanten (Kräfte) gegeben, die so, aber auch anders hätten ausfallen können. Das Postulieren einer Einheit, einer Ganzheit, eines Lebensstils enthebt von der mühsamen Suche nach Ursachen, die Sache ist damit erledigt. Unterstellung eines Zweckes ist eine Vereinfachung und eine Bequemlichkeit, ein Hinweggleiten des Bewusstseins über das Unverstandene einer Sachlage.

Gerald Mackenthun
Berlin, Oktober 2001

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