Stephen Jay Gould: Illusion Fortschritt: Die vielfältigen Wege der
Evolution. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1998, 287 S., DM 44,--
Kopernikus warf die Erde aus dem Mittelpunkt der
Welt, Darwin ließdie Stammesgeschichte des Menschen im Tierreich
beginnen und Freud postulierte, daß der Mensch aufgrund seines
unbewußen Seelenlebens "nicht Herr im eigenen Haus" ist. Der
amerikanische Zoologe und Geologe Stephen Jay Gould hat für die
Menschheit eine weitere Kränkung parat: Der Mensch ist nicht Krone
und Höhepunkt der Evolution.
Der Grund ist recht einfach: Vor drei bis vier Milliarden Jahren
entstanden die einfachsten Lebewesen, die Bakterien. Die Natur ließ
sich zwei Milliarden Jahre Zeit, ehe sie mehrzellige Lebensformen
hervorbrachte. Fische, Vögel und Säugetiere sind nach Goulds
Argumentation zwar hochkomplex, aber nur ein unbedeutender Seitenast
auf einem verzweigten Busch, der von Bakterien beherrscht wurde,
nach wie vor beherrscht wird und vermutlich auch beherrscht werden
wird, bis die Sonne explodiert.
Allein im Darm eines einzigen Menschen siedeln mehr
Kolibakterien, als je Menschen leben und gelebt haben. Einzeller
existieren in Vulkanen, in kochendem Wasser und unter
unvorstellbarem Druck im Erdinnern. Sie besiedeln die Meere und
jeden Quadratzentimeter unserer Haut. Anders gesagt: Es gibt keinen
allgemeinen Trend in der Evolution zu "höheren" Lebewesen.
Komplexere Formen haben sich nur zufällig herausgebildet, schreibt
Gould in "Illusion Fortschritt", sie sind die seltene Ausnahme in
einer Welt von Einzellern.
Schon in früheren Büchern ("Zufall Mensch", "Bravo,
Brontosaurus") zeigte sich der 1941 geborene Harvardprofessor Gould
unübertroffen in Witz und Wissen bei der Darstellung und
Interpretation der Evolution. In seinem jüngsten Werk neigt der
unübertroffener Meister der wissenschaftlichen Erzählkunst erstmals
zu Wiederholungen und Abschweifungen.
Der größte Umweg betrifft die ausführliche Erörterung der Frage,
warum die besten Schläger ("batter") im amerikanischen Baseball seit
1930 unter vier Treffern pro zehn Würfen bleiben. Im Falle der
"batter" sei jedoch kein Trend zu schlechteren Leistungen
festzustellen, vielmehr hätten die Werfer ("pitcher") ihre Technik
verbesserten und drückten die Leistungen der Spitzen-Batter.
Die Leistung von unter vier zu zehn sei also kein Zeichen für
Abstieg, sondern für eine insgesamt bessere Spielleistung. Und die
Tatsache des Menschen sei kein Zeichen für evolutionären Aufstieg,
sondern nur eine zufällig Ausnahme eines ungebrochenen Trends zum
Einzeller. Auf die Evolution angewandt will Gould mit dem
Baseball-Beispiel zeigen, wie leicht man mit falsch interpretierten
Trends in die Irre laufen kann. Es müsse immer das "ganze Haus" der
Evolution betrachtet werden, und das sei eben fast ausnahmslos von
Keimen bewohnt.
Gerald Mackenthun, Berlin
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